Vorsichtig fahren ist riskant
Bis 1. Mai haben Autofahrer Zeit zu begreifen, was die neue Reifennorm von ihnen will
von Christine Jähn
Die Reifen des deutschen Autos sind keine Privatsache. Eine Änderung der Straßenverkehrsordnung fordert in Zukunft „geeignete Bereifung“; Ende Dezember hat der Bundesrat zugestimmt, in Kraft tritt die Reifennorm im Frühling 2006, und bis zum 1. Mai haben Deutschlands Autobesitzer Zeit, zu begreifen, was sie bedeutet. Die Verkehrspolizisten auch. Welchen Reifen die Beamten dann für „geeignet“ halten, müssen sie nämlich selbst ermessen.
Ein lernbegieriger Polizist aus der bayerischen Provinz rief daher am zweiten Arbeitstag des neuen Jahres bei einem deutschen Reifentester an, berichtet dessen Pressesprecher. Der Beamte habe sich erkundigt, wie man denn Ganzjahresreifen identifizieren könne. Ein Lokaljournalist habe ihn danach gefragt.
Die unbefriedigende Antwort lautet, dass man einen Ganzjahresreifen nicht erkennt, weil es nämlich keine amtliche Kennzeichnungspflicht für die Saisontauglichkeit von Reifen gibt. Während der Winterreifen mehr Längsrillen hat als ein Sommerreifen, ist der Ganzjahresreifen zwar meist so gut wie ein Winterreifen, landet nach Augenschein aber wohl mal in der Winter-, mal in der Sommer-Kategorie. Dem Autofahrer hilft letztlich nur der Kaufbeleg im Handschuhfach.
Ermessensfrage ist auch die Profiltiefe. Faustformel im Winter: vier Millimeter. Doch das Gesetz erlaubt, ein Profil auf 1,6 Millimeter herunter zu fahren. Arm der Polizist, der einen Autofahrer kontrolliert, der langsam fährt, andere Verkehrsteilnehmer aufhält und Winterreifen mit heruntergefahrenem Profil benutzt: Ob der Beamte da ein Bußgeld verhängt? Sein Risiko! Denn vielleicht denkt der Richter, den der Autofahrer später bemühen wird, anders als der Schutzmann.
Testzeitschriften empfehlen Winterreifen schon bei Temperaturen unter sieben Grad, weil sie aus einem Material bestehen, das sich schneller erhitzt und bei eisigen Temperaturen griffiger ist als ein Sommerreifen. Doch wann sind die Straßen kalt oder winterlich genug für Winterreifen? Bei weniger als sieben Grad Lufttemperatur? Wenn es der Radiomoderator im Verkehrsfunk sagt? Oder wenn es sich, rein klimatologisch gesehen, um einen Schneetag handelt? Also ein Tag mit einer geschlossenen Schneedecke? Ach, was das nun wieder ist? Auf dem Boden in verschiedenen Schichten abgelagerter Schnee. So wird es definiert.
Aber was ist mit einer einzigen Schicht Schnee, die dann auch gleich wieder taut? Vielleicht ist sie kein Sicherheitsrisiko, weil die Flocken die Straße nass machen wie Regen und auch nicht anfrieren. Trotzdem will der Autofahrer sicher gehen und fährt langsam. Im Zweifel kostet ihn das 40 Euro: 20 Euro, weil er mit Sommerreifen keine geeignete Bereifung hat; und zusätzliche 20 Euro, weil er den Verkehr aufhält. Eine Strafe also für ein den Umständen entsprechend vernünftiges Verhalten.
Eins ist jedenfalls gewiss: Der kommende Winter wird interessant.